Per Ende Jahr wechselt Kerstin Rödiger vom Universitätsspital Basel (USB) ans REHAB Basel, «eine hochspezialisierte Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie». An einem ihrer Arbeitsorte, der Spitalkapelle des USB, erzählt sie von den Jahren, die sie in dieser «Klinik-Stadt» verbracht hat.
Kerstin, wie lange hast Du als Spitalseelsorgerin am USB gearbeitet? Kerstin Rödiger: Neuneinhalb Jahre, ich habe im August 2016 angefangen. Fast zehn Jahre.
Warum bist du damals in die Spitalseelsorge gewechselt? Ich war erst in der Pfarrei in Binnigen. Für die Berufseinführung (die berufsbegleitende Ausbildung zur Pfarreiseelsorgerin im Bistum Basel, Anm. d. Red.) habe ich nach Frenkendorf-Füllinsdorf gewechselt. Meine Vorgängerin hier, Luzia Hauser, war meine Supervisorin in der Ausbildung. Sie kündigte an, in Pension zu gehen und so fing die Überlegung bei mir an. Mir waren die Themen Lebensanfang – Schwangerschaft, Geburt und Spiritualität sehr wichtig und dieses «Paket» gibt es am USB. Deshalb habe ich mich beworben.
Hat die Arbeit am USB dann Deinen Erwartungen entsprochen? Es ist ja immer anders als gedacht – doch hier war tatsächlich ein Leerraum bei dem Thema. Bei der Bewerbung habe ich schon von meinem Herzensthema gesprochen und es ergab sich die Möglichkeit, in der Station Mutter und Kind tätig zu sein. Dort gab es bisher keine regelmässige aufsuchende Seelsorge, sondern wir wurden gerufen, wenn Tod auf Geburt folgte. Es war dann ein Kairos oder ein Geschenk vom Himmel, dass das Spital eine Arbeitsgruppe gegründet hatte, um das Thema «glücklose Schwangerschaft» besser zu begleiten. Ein wichtiges Thema war, wie die Überreste der nicht-meldepflichtigen Babys und Embryos würdevoll bestattet werden können. Dieser Auftrag kam dann zu mir.
Kerstin Rödiger erläutert, dass der Umgang mit geborenen Kindern anders und klarer wird, wenn es sich um «meldepflichtige» Fälle handelt. Meldepflichtig seien Sternenkinder ab der 22. Schwangerschaftswoche oder schwerer als 500 Gramm oder Neugeborene, die bei der Geburt leben und dann versterben.
Es ist ein schwieriges Thema! Ja. Doch zusätzlich zu dem Kairos im Spital war auch der Hörnli ein Glücksfall. Es gab ein neues Krematorium, welches auch die Kleinen kremieren konnte. Das Spital erteilte dann den Auftrag, einmal im Jahr eine Beerdigung all dieser zu früh Verstorbenen zu organisieren. Der damalige Leiter des Hörnli meinte dann: Es muss auch eine Feier geben. 2025 fand diese Feier zum 9.Mal statt und hat jetzt einen sehr runden Ablauf.
Wie sieht der aus? Es gibt erst die Bestattung und dann eine Gedenkfeier. Diese ist Outdoor, damit wir nicht an die Öffnungszeiten der Kapelle dort gebunden sind. Von Anfang an mit dabei war Claudia (Meier) vom Bethesda Spital. Es ist eine Musikerin dazugekommen und jetzt ist die Feier in ihrer Form etabliert: Es ist ein Spaziergang über den Friedhof, eine Feier mit den Elementen. Wasser als Oase, Wind als Bewegung Es gibt einen Baum mit den Namensbändern und dann natürlich Kerzen für das Licht.
Wer besucht diese Feier? Die Eltern und die Geschwister – am Anfang kamen nur drei oder vier. Doch dank der Unterstützung seitens des Hörnlis sind es jetzt 50 bis 60 Teilnehmende. Da ist wirklich ein enger Kontakt in der Zusammenarbeit entstanden. Und ich lade auch die von uns betreuten Personen nochmals extra ein. Ausserdem suchte ich den Kontakt zu denen in der Region, die mit dem Thema zu tun haben. Das hat auch geholfen.
Das heisst Du hast ein Netzwerk aufgebaut? Ja.
Wie oft hast Du die Feier erlebt? Neun Mal habe ich die jetzt gemacht. Diese Feier liebe ich sehr und die werde ich vermissen. Auch die ganze Arbeit in dem Zusammenhang. Vor vier Jahren ist als Begleitform noch das Erzählcafé dazugekommen. Dort haben sich Eltern getroffen, die in der Trauer vereint waren, auch wenn sie aus ganz unterschiedlichen Gründen die Kinder früh verloren haben. Teilweise sind lange Begleitungen daraus entstanden.
Was hast Du sonst noch gemacht am USB? Schwangere begleitet, die teilweise lange hier liegen, weil in der Schwangerschaft etwas passiert. Ich bin aber auch zu den Neugeborenen und ihren Müttern gegangen. Die Neugeborenen habe ich begrüsst und den Müttern Wertschätzung und Anerkennung für ihre Anstrengung ausgesprochen. Da sind dann auch die Segensbänder «geboren», die ich verschenke. Beim ersten Mal habe ich Bänder aus Deutschland von der Fastenaktion Misereor bestellt.
Kerstin Rödiger holt eine Handvoll regenbogenfarbener Bänder mit weissen Buchstaben aus ihrer Tasche und erzählt, dass diese Fithina (portugiesisch für «kleines Band») in Brasilien gang und gäbe sind. Man trägt sie z. B. ums Handgelenk oder bindet sie ans Auto und wenn sie von selbst abfallen, erfüllt sich ein Wunsch.
Und die verteilst Du? Ja, ich habe zuerst die von Misereor verteilt und dann in Absprache mit dem Spital ein Band entworfen. Da sind auch entsprechend die Logos von «ihre kirchen» und dem USB drauf. Ich besuche die Mütter und frage: Wie war die Geburt, wie geht es Ihnen, wie heisst das kleine Wunder? Ich habe gute Wünsche für das Neugeborene dabei. Und dann biete ich das Band an. Es wird kaum je abgelehnt.
Wenn das die Tätigkeit in Deinem Herzensthema ist, was hast Du sonst noch gemacht? Schwerpunktmässig war ich auf der Intensivstation, der HNO (Hals-, Nasen-, Ohrenklink) oder der Chirurgischen Klinik.
Ist das dann klassische Spitalseelsorge, man geht vorbei und sagt Hallo? Auf der Intensivstation natürlich nicht. Da geht es immer mehr um die Angehörigen, weil die Intensivpatienten nicht ansprechbar sind. Aber auf der HNO ging ich aktiv vorbei und fragte, ob Bedarf nach Seelsorge da ist. Gerade da, wo Menschen lange in der Klinik liegen, geht es dann auch um interdisziplinäre Zusammenarbeit. Also Absprachen mit der Psychologie. Auch dort, wo Verwandte belastet sind.
Was hat sich in der konkreten Arbeit verändert in der Zeit, die Du am USB bist? Die Intensivstation ist anders geworden. Es sind mehr nicht-ansprechbare Personen. Und dann bin ich vor allem mit Angehörigen in Kontakt. Die Intensiv ist sehr angehörigenfreundlich, weil sie die Angehörigen als Ressource wahrnimmt. Es gibt eine Gruppe von Pflegenden auf der Intensiv, die überlegt, was dazu beiträgt, dass sich die Angehörigen gut betreut fühlen. Sie vereinbaren dann z. B. eine Uhrzeit pro Tag, an denen sie anrufen und auf den neusten Stand bringen.
Was ist mit Seelsorge für das Personal? Ja die ist auch Teil der Arbeit, allerdings sehr situativ, zwischen Tür und Angel sozusagen, eben dann, wenn die Pflegenden gerade da sind und Zeit haben. Ein Teil unserer Arbeit ist ja diese Beziehungsarbeit, dass die Pflegenden wissen, wir sind da.
Gibt es Themen, die für Dich mit der Zeit wichtiger wurden? Ja! Eines ist die Professionalisierung im Kontext des Systems Spital. Dazu gehört eine Sprache, die alle verstehen. Was machen wir denn und wie machen wird das. Wenn ich im Spitalsystem davon erzählte spreche ich mit anderen Worten, als wenn ich mit anderen Seelsorgenden austausche. Immer schon wichtig war, dass man präsent sein muss in diesem System. Bei den Leuten sein, also die genannte Beziehungsarbeit, aber auch strategisch, strukturell und im interprofessionellen Kontext.
Was wurde unwichtiger? Nicht unwichtiger, aber was sich verändert hat: Am Anfang waren wir 24/7. Je eine Woche lang – das habe ich gerne gemacht, denn es hat damit zu tun gehabt, dass ich da bin – auch mitten in der Nacht oder eben am Sonntag. Das gibt es so aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr.
Das «da-sein» ist Dir wichtig, oder? Ja. Ich habe mir beispielsweise angewöhnt, auch zu denen zu gehen, an die man im ersten Moment nicht so denkt, wenn man an Spital denkt. Einmal im Jahr bringe ich den Handwerkern ein Znüni. Auch das Labor, die Geburtsabteilung, der OP sind ganz eigene Universen innerhalb dieser «Klinik-Stadt».
Hat sich noch anderes verändert? Der Workflow – ambulant wird z. B. immer wichtiger. Das ist eine Entwicklung die interessant ist, weil sie die Frage aufwirft, wie Seelsorge dann aussieht, denn dort sind wir nicht systematisch vertreten.
Warum wechselst Du ins REHAB? Ich kenne von mir diesen Turnus von zirka 10 Jahre und ich lieb den Zauber des Anfangs. Es bietet sich die Chance etwas Neues anzufangen. Es ist also eine innere und äussere Dynamik.
Was wird dort Deine Aufgabe sein? Ich baue die Seelsorge dort auf – es gibt dort zwar Seelsorge, doch nur in einem kleinen Stellenumfang und auf Wunsch der Klinik wurde das aufgestockt und sie suchen jemanden, der Aufbauarbeit leistet. Es ist ja eine Neurorehabilitation mit verschiedenen Stationen und Disziplinen. Es gibt Wohngruppen und die Patien:innen bleiben dort länger.
Es ist also ein slow down. Freust Du dich? Ja – es ist ein kleineres Haus, es ist vieles möglich und das ist ganz offen.
Das USB ist wirklich riesig. Am Anfang sagte ich spasshaft, man dürfe nichts im Büro vergessen und Du hast Deine Tasche erwähnt, die Du immer dabeihast. Was ist da drin, verrätst Du das? Im USB sind 16'000 Schritte pro Tag wirklich kein Problem und man kann viele Treppen steigen. Die Tasche bildet die Selbstsorge ab: Darin sind Wasser, Bonbons, Hygieneartikel. Aber auch die Seelsorge ist in der Tasche: Aus dem Bistum Würzburg ein dünnes Büchlein für die Feier des Sterbesegens, daraus brauche ich vor allem den Psalm 23. Gebete spreche ich frei und versuche sie kurz zu halten, möglichst mit etwas persönlichem aus dem Gespräch. Aber Psalm 23 ist zum Vorlesen. Dann sind natürlich die Segensbänder in der Tasche, ein Kalimba für Musik, meist für einen Moment von Abschied. Ich habe Bild- und Visitenkarten zum Abgeben und natürlich einen Stift.
Hat sich Dein Blick auf’s «krank sein» in der Zeit hier am USB verändert? Mein Blick auf das Sterben hat sich sehr verändert. Gerade im Bereich der Intensivmedizin gibt es einen wichtigen Moment für Angehörige, den man nicht verpassen sollte. Das ist der Moment, in dem ich entscheide: Lasse ich ihn oder sie jetzt gehen? Und was bedeutet es, noch alles machen zu wollen. Was ich in letzter Zeit bemerke: Beim Thema Sterben wird es ganz schwierig zu akzeptieren, dass das Leben endlich ist. Bei den Eltern, die ihre Kinder verlieren bricht das total unvermittelt ein und sie müssen damit umgehen und daran arbeiten. Gleichzeitig nehme ich eine wachsende spirituelle Kompetenz wahr. Die Eltern gestalten die Abschiede immer häufiger selbst. Ich ermutige sie, auf ihre Intuition zu vertrauen. Es wächst die Kompetenz, herauszufinden, was für einen selbst wirklich stimmt. Dennoch ist es hilfreich vertraute Rituale zu haben, auf die man zurückgreifen kann. Und was mir wichtig geworden ist: Vieles muss man schnell entscheiden hier im Spital. Auch wenn es um den Vater oder die Mutter im Intensivbett geht, die wichtigste Person ist immer die, die mir gegenübersteht und dieser Mensch, der mir gegenübersteht, braucht die Wahrheit.
Habe ich etwas vergessen zu fragen, gibt es etwas, was Dir noch wichtig ist? Es war eine reiche und tolle Zeit und ich habe so viel gelernt und erlebt. Auch der Blick hinter die Kulissen des USB. Das Unispital ist eine Lehrmeisterin in Dynamik, in Menschlichkeit. In all dem Stress erlebe ich so viele Pflegende mit Hingabe. Das ist beeindrucken und immer wieder teilhaben zu dürfen an den Wundern von Leben und Sterben.
Gespräch und Foto: Kommunikation RKK BS - Anne Burgmer - 3. Dezember 2025