Seit gut einem Jahr engagiert sich Susanne Birke in der «SiTa – Seelsorge im Tabubereich», der gemeinsamen Fachstelle der Römisch-Katholischen Kirchen in Basel-Stadt und Baselland. Nun zieht sie Zwischenbilanz in einem persönlichen Essay.
Im März vor einem Jahr trat ich die Stelle als Seelsorgerin im Tabubereich an. Es war ein spannendes Jahr und in mancher Hinsicht eine völlig andere Arbeit nach 20 Jahren in der Erwachsenenbildung. Doch Vieles begleitet mich bei SiTa (s. Kasten, Anm. d. Red.) weiter, wenn auch in einem neuen Umfeld. Nun bin ich mit Migrantinnen unterwegs, die für die Sexarbeit meist aus Osteuropa oder via EU aus Lateinamerika, Asien und Afrika herkommen.
Viele der Frauen haben einen prekären sozioökonomischen Hintergrund – sei es, weil sie schon im Heimatland in Armut lebten oder sei es, weil sie als Migrantinnen nicht mehr an den Status ihres früheren Lebens anknüpfen können.
Viele sind Kurzaufenthalterinnen. Trotz dieser anderen Ausgangslage sind mir viele ihrer Themen vertraut: die Sorge um die Kinder und die weitere Familie, Trauer um Verstorbene, Krankheit, Stolz auf Erreichtes, Überlastung, geplatzte Träume – und geschenktes Glück.
Die meisten der Frauen, die zu mir kommen, wissen, dass sie mehr oder weniger auf sich gestellt sind. Sie tragen die finanzielle Verantwortung in der Regel nicht nur für sich allein, sondern auch für ihre Angehörigen bis hin zu ihren Enkelkindern. Es liegt an ihnen, für sie zu sorgen. Nur selten ist da jemand, der sie auffängt und trägt.
Dennoch: Ganz allein sind die Frauen nicht. Viele glauben an Gott. Das ist wohl meine grundlegendste Lektion aus diesem Jahr: Gott ist viel häufiger explizit mit dabei. Und so führen wir oftmals die Gespräche zu dritt, mit Klagen und Dank, wie in den Psalmen. «Ohne Gebet gehe ich nicht», sagte mir eine Klientin. Also beenden wir unser Gespräch immer mit einem Gebet.
Es gibt viele Bitten. Das Leben verlangt viel von den Frauen in der Prostitution. Sie müssen stark sein, ich staune über ihre Kraft. Schwäche und Verletzlichkeit haben in ihrem Alltag keinen Raum, Lektion zwei.
Umso wichtiger sind Momente, in denen Verletzlichkeit Platz haben darf. Die erste Segensfeier für Frauen, die als Sexarbeiterin tätig sind, im letzten November war eine neue Erfahrung für mich. Noch nie war ich an einem liturgischen Anlass, an dem so viele Tränen flossen.
Doch: Menschen, die es schwer haben, schätzen das Schöne und die Freude, Lektion drei. Das Leuchten im Blick der Frauen, wenn ich ihnen ein Kleinbild der schwarzen Madonna schenke, eine erfüllte Stille oder ein herzhaftes Lachen gehören alle mit dazu. Eine Frau, die ich im Pflegeheim besuchte, machte sich bis zu ihrem Tod für den Besuch schick und schminkte sich. Über kleine Missgeschicke lachte sie gern.
Damit SiTa wirklich einen Raum für die Frauen bieten kann, musste ich in meinem ersten Jahr als Seelsorgerin im Tabubereich Lektion vier zu Herzen nehmen: Auf mich selbst achten. Für Menschen da zu sein, deren Beruf es ist, anderen die Wünsche von den Augen abzulesen, kann sehr herausfordernd sein. Da braucht es gute Selbstfürsorge und auch Selbstwahrnehmung, damit die Seelsorge auch Seelsorge bleibt. Dazu gehört auch, ganz im Moment zu bleiben. Mal ist Zeit für ein Gespräch, mal passt es nicht. Das darf so sein.
Last, but not least: Dankbarkeit, Lektion fünf. Ich darf mich immer wieder mit den Frauen freuen: Über einen bestandenen Deutschkurs, eine B-Aufenthaltsbewilligung oder über ihre Tochter, die sie mir voller Stolz vorstellen.
Wenn ich als SiTa-Seelsorgerin unterwegs bin, betrete ich heiligen Boden.
Susanne Andrea Birke
Seelsorge im Tabubereich
SiTa – Seelsorge im Tabubereich ist die Fachstelle der Römisch-Katholischen Landeskirchen Baselland und Basel-Stadt. Der Schwerpunkt der Stelle liegt bei der Seelsorge im Rotlichtmilieu. SiTa unterstützt Sexarbeiterinnen dabei, den eigenen Glauben lebensstärkend zu leben. Grundlage ist eine vorurteilsfreie und wertschätzende Haltung, wie sie Jesus von Nazareth vorgelebt hat.